Erkenntnisse aus dem Slot mit Dr. Nicole Riemer (osb international) auf dem 360° Festival für innovative Planung
Kennen Sie das?
- Die kommunale Kinder- und Jugendhilfe ist vor allem ein von Aushandlungen (eher wenig) und Kämpfen (eher mehr) geprägtes Spannungsfeld zwischen freien Trägern, Verwaltung und Politik.
- Die Sitzungen des Jugendhilfeausschusses gestalten sich durch zugeteilte Rollen und eine bewährte Dramaturgie immer wiederkehrender (und darum erwartbarer) Phrasen wie die endlose Dauervorstellung eines Theaterstückes, welches man schon gefühlte hundertmal gesehen hat und doch immer wieder besuchen muss.
- Das Ausloten von Interessen der Akteure bringt wenig zusätzlichen Ertrag oder Aussicht auf Veränderung, da vermeintlich alles gesagt ist – und wahrscheinlich auch wieder gesagt werden wird.
- Das, was wirklich wichtig ist (darunter auch die ein oder andere bedeutsame Information oder die Perspektiven der Kinder und Jugendlichen) wird darum an andere Schauplätze, Gelegenheiten und Orte ausgelagert…
Lässt sich zwischen Planungsfachkräften, den Trägern der Jugendhilfe und den politischen Vertreter:innen eine Kommunikation herstellen, die Lösungen für komplexe Bedarfslagen der Kinder und Jugendlichen ermöglicht? Wenn das Problem doch eigentlich bei den einander widerstrebenden Aufträgen der Akteure liegt, ist auf Ebene der Kommunikation noch etwas auszurichten?
An dieser Stelle sei vorgegriffen mit einem beherzten „Ja!“. Auf unserem Festival für innovative Planung haben wir Dr. Nicole Riemer (osb international) dazu eingeladen, im Rahmen eines Workshops mit Planungs- und Leitungskräften aus systemischer Perspektive auf die Potentiale und Grenzen von Kommunikation in der Kinder- und Jugendhilfe zu schauen. Die Impulse und Inhalte der angeregten Diskussion entlang der Praxisbeispiele der Teilnehmenden sind im Folgenden zusammengefasst.
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Multiperspektivität nutzen und Arbeitsweisen reflektieren
Bereits im ersten Teil der Veranstaltung machte unsere Referentin unmissverständlich klar: Multiperspektivität ist grundsätzlich wünschenswert. Denn gesellschaftliche Herausforderungen und Anforderungen, auch in der Kinder- und Jugendhilfe werden zunehmend komplexer und vielschichtiger. Es lässt sich daher annehmen, dass Antworten tendenziell wirksamer sind, wenn die kommunalen Herausforderungen aus möglichst unterschiedlichen Perspektiven betrachtet und bearbeitet werden. Der Jugendhilfeausschuss birgt somit gerade in seiner diversen Zusammensetzung das Potential, ein zeitgemäßes Forum kommunaler Aushandlung ebenso wie der Krisenbewältigung zu sein (oder zumindest noch zu werden).
Um dieses Potential zu heben, ist es notwendig, der offenen Darlegung von Agenden, Perspektiven und Widerständen und einer „wirklichen“ Diskussion einen Raum zu schaffen. Dazu kann ein bewusstes Informations- und Wissensmanagement der eigenen Organisation, z.B. des Jugendamtes in den Aushandlungsprozessen beitragen. Es geht hier nicht um bedingungslose Transparenz der Transparenz willen. Es gilt aber, ein vertrauensvolles Miteinander zu gestalten, welches die offene Darlegung der eigenen Bedarfe und Agenden erst ermöglicht. Die Teilnehmenden der Diskussion wussten davon zu berichten, dass Komplexitätsreduktion durch Taktieren z.B. durch das bewusste Vorenthalten von Informationen allzu oft mit dem hohen Preis eines nachhaltigen Vertrauensverlustes bezahlt sind.
Sollte sich die Gelegenheit ergeben, die gemeinsamen Arbeits- und Kommunikationsweisen systematisch im Gremium zu reflektieren und zu bearbeiten: Nutzen! Eine Teilnehmerin erzählte hier von einer mehrtägigen Jugendhilfeausschussklausur – bis der „weiße Rauch“ über dem Tagungsort wehte. Nicole Riemer benannte die Retrospektiven (bspw. Starfish-Retro) als zugängliche Modelle, um rückschauend die gemeinsame Arbeitsweise zu reflektieren: Was war im Austausch- und Entscheidungsverfahren gut? Was bräuchte es zusätzlich? Was können wir getrost hinter uns lassen?
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Sich kennen und Handlungsspielräume nutzen
Wie wichtig es ist, informelle Netzwerke zu knüpfen und zu pflegen, hoben die Teilnehmenden in kleineren Austauschrunden mehrfach hervor. Als Bestandteil des kommunalen Systems der Kinder- und Jugendhilfe und nicht als strategisches Gegenmodell zum JHA können sie diesen ergänzen und tragen, indem sie Raum bieten, das gegenseitige Voneinander Wissen um Perspektiven und Positionen der Akteure zu erweitern. Dieser Austausch stellt eine Grundlage für die notwendige Übersetzung der verschiedenen „Sprachen“ in den Aushandlungen dar und sollte dafür auch bewusst genutzt werden. Mit verschiedenen Varianten der Stakeholder-Analyse lässt sich die Akteurslandschaft bei Bedarf auch systematisch aufbereiten und ggf. weitere Verbündete im Handlungsfeld aufdecken.
Übrigens, „Sich kennen“ meint hier auch sich selbst (und die eigenen Grenzen und Möglichkeiten im Engagement für die Kinder, Jugendlichen und ihre Familien) kennen und ernst zu nehmen. Suchen Sie sich das Spielfeld, wo Sie Handlungsspielraum und Koalitionspartner:innen haben oder, wie Nicole Riemer es anhand des Modells von Steven R. Covey (1996) präzisierte: Halten Sie sich nicht zu lange in Ihrem Circle of Concern auf. Konzentrieren Sie sich auf Ihren Circle of Influence!
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Kommunikation ist unwahrscheinlich – und subjektiv
Wer bis hierhin gelesen hat und weiterhin resigniert auf die Chancen blickt, mit Kommunikation etwas zu verändern, dem sei der abschließende Abschnitt dringend ans Herz gelegt. Denn in unserem Workshop kam die Rede auch auf die Möglichkeiten und Grenzen von Kommunikation – und damit auch auf Ihre persönlichen Möglichkeiten und Grenzen, etwas „kommunikativ zu bewegen“.
Wie Nicole Riemer ausführte, stellt Kommunikation aus systemtheoretischer Perspektive die zentrale Operation sozialer Systeme dar. Sie kommt also nicht als etwas Neues zu Herausforderungen und Konflikten hinzu (z.B. wie eine Lösung oder ein „Allheilmittel“) sondern bildet den Rahmen, in welchem sich die Konflikte und Reibungen (aber auch Lösungen) vollziehen. Jedes System verfügt dabei über ein eigenes Set an Möglichkeiten, etwas „zu senden“ bzw. „etwas zu verstehen“. Durch diese voraussetzungsvolle Kette zwischen Sender und Empfänger wird Kommunikation „unwahrscheinlich“ (Luhmann, 1981) und ist vor allem subjektiv.
Auf der einen Seite muss man sich damit vermutlich von dem Wunsch verabschieden, dass der Zustand einer reibungslosen Übersetzung von Informationen in der Kinder- und Jugendhilfe vielleicht doch noch einmal eintritt: „Wenn sie mich/uns doch endlich einmal verstehen würden!“ Etwas erhöhen können Sie die Wahrscheinlichkeit von gegenseitigem Verstehen immerhin, wenn Sie sich (im gemeinsamen System der Kinder- und Jugendhilfe) kennen und für ein vertrauensvolles Miteinander einsetzen.
Im Workshop besprachen wir aber auch die Handlungsmöglichkeiten, die sich direkt aus dieser subjektiven Verantwortung für Kommunikation ergeben.
So können wir der Sender:in einer Botschaft an uns jederzeit eine gute Absicht (oder ein Commitment z.B. über die Ziele der kommunalen Kinder- und Jugendhilfe) unterstellen. Nicole Riemer umschrieb uns dieses Prinzip der wohlwollenden Interpretation (konsequent positive Unterstellung nach Rosenberg) als eine erfolgreiche Verhandlungsprämisse.
Die Subjektivität von Kommunikation bedeutet also, dass sie immer nur ein Angebot (z.B. von Kooperation) sein kann. Und darin liegt auch ihr/Ihr Potential. Denn wenn man dem sozialen System – in diesem Fall den Mitgliedern des JHA – neue Möglichkeiten von Kommunikationsanschlüssen anbietet, erhöhen sich damit die Chancen, dass es sich verändert. Das können Sie jeden Tag tun! Z.B., wenn Sie, wie eine Teilnehmende unseres Slots auf dem Festival berichtete, in der offenen Runde des Jugendhilfeausschusses darlegen, einen Fehler gemacht zu haben – und so das soziale System mit einer neuen Option beschenken, mit Fehlern umzugehen.
Veränderungen geschehen nicht von heute auf morgen, aber der erste Schritt dahin geschieht tatsächlich meistens heute oder morgen.